Nela spürte den Zug schon vom Weiten. Die Gleise vibrierten.
In ihrer Flies-Jacke fror sie bei diesen Temperaturen. Einen Schal hatte sie
auch in der Eile vergessen. Ihr Atem stieß weiße Wölkchen aus. Sie hörte ein
ohrenbetäubendes Pfeifen. Gleich war es so weit. Wie würde er reagieren? Nach
dieser langen Zeit würde er sie vielleicht gar nicht mehr kennen. Sie hatte
sich einen genauen Plan entworfen, wie sie vorgehen würde. Spontan überlegte
sie sich etwas Anderes. Schnell huschte sie hinter eine farblose Säule. Die
sichere Variante. Der ICE fuhr in den Bahnhof ein. Nela suchte mit ihren Augen
nach ihm in den Zugfenstern, die die Fahrgäste zeigten, sofern das bei der Geschwindigkeit
möglich war. War er der Junge im zweiten Abteil, der, der gelangweilt aus dem
Fenster sah? Oder doch der, der seinen Kopf auf die Knie stützte, als wüsste er
nicht mehr weiter? Sie wusste es nicht. Sie hatte immer gedacht, auch wenn sie
sich nicht genau an ihn erinnern konnte, so würde sie ihn aber erkennen. Entmutigt ließ sie sich hängen. Das ganze
Suchen, Recherchieren, alles umsonst? Nein, aufgeben würde sie jetzt noch
nicht. Sie wartete bis der Zug langsamer wurde und schließlich zum Stehen kam.
Angespannt und aufgeregt geduldete sie sich, die Türen wurden geöffnet. Viele verschiedene
Leute strömten mit Koffern, Taschen und Rucksäcken heraus. Überwältigt stand
sie da, unfähig sich zu bewegen. Das war der Moment auf den sie so lange gehofft, sich immerzu gesehnt hatte. Auf einmal fing ihre Hand an zu kribbeln, während
sie einen nach ihrer Schätzung 17-Jährigen Jungen erblickte. Ihre Blicke trafen
sich. Der Zug war nun fast leer. Und immer weiter, als gäbe es kein Ende,
liefen Personen in Massen über den Bahnhof, kämpften sich durch das Gewühl.
Doch er blieb einfach stehen und erwiderte ihren Blick. Nela sog die Luft ein.
Ihr Herz klopfte schneller. Wie sehr er sich verändert hatte. Er war reifer und
größer geworden. Wenn ihr nicht ihr Inneres geholfen hätte, so hätte sie ihn
niemals erkennen können. Der Bahnsteig war jetzt beinahe verlassen. Und sie
rührte sich immer noch nicht. Ein Kampf fand in ihr statt. Was sollte sie denn
jetzt tun? Laut seinen Namen zu rufen, wie sie es sich ausgemalt hatte, kam ihr
sehr unpassend vor. Plötzlich gewann ihr Körper die Oberhand und sie stolperte
ein paar Meter vor. Wie seltsam das auf einen Außenstehenden wirken musste.
Überrascht merkte sie, dass sie weinte. Tränen tropften auf den kalten,
dreckigen Steinboden unter ihren Füßen. Sie wollte sich beherrschen, doch es
hörte einfach nicht auf. Im Gegenteil, es wurde immer heftiger, bis sie auf dem
Boden kauerte und ihr Körper bebte. Sie hob ihren Blick. Er kam ganz langsam
näher. Sein Gesicht war nur noch ein Meter entfernt. „Ist alles in Ordnung?“,
fragte er leise. Seine Stimme war rau und tief, nicht mehr hoch und kindlich, wie sie einmal gewesen war. Noch während sie ihn anblickte, stand sie auf. Ihre Arme schlossen sich von selber um seinen
kräftigen Körper. Ihre Tränen versiegten, denn sie war einfach froh, ihren
Bruder wieder zu sehen, und seine Anwesenheit zu spüren.
Bei dieser Kurzgeschichte habe ich mich vor allem auf die Beschreibung der Umwelt konzentriert. Ein wenig übertrieben, ich weiß. Ich habe einen Hang zum Dramatischen. Ein Werk von Januar 2015.
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