Eine weitere aufregende Nacht stand ihr bevor. Es war
ihr schon so vertraut, sich unbemerkt aus dem Schloss zu schleichen, dass sie
es beinahe ohne Nachdenken tat. Mit ihrem schwarzen Kapuzenumhang war sie nur
schwer als das zu erkennen, was sie eigentlich war; die Königin dieses Landes.
Jedes Mal verspürte sie ein leichtes schlechtes Gewissen, wenn sie nachts an
den Wachen vorbeihuschte, aber tagsüber starb sie fast an Langeweile, wenn sie
mit einem weiteren Stapel Papiere zum Unterschreiben konfrontiert wurde. Diese
Nächte waren die einzige Ausflucht aus dieser öden Welt.
Als dunkle Gestalt fiel sie in den Gassen ihrer Stadt
kaum auf. Sicherheitshalber trug sie dennoch immer ein Messer in ihren
Stiefeln. Sie wusste zu wenig, um auch ohne ihre Aufmachung sicher gehen zu
können, nicht erkannt zu werden. Bestimmt wollten sie viele Leute tot sehen. Es
war seltsam, eine ganz andere Person zu sein, obwohl sie nur andere Kleidung
trug. Ihr gefiel diese Person. Es forderte sie heraus, eine komplett neue
Identität nur mit ihrem Kopf zu kreieren. Diese Art von Spaß wurde bei ihren
alltäglichen Aufgaben nicht gefordert.
Mit einem Kribbeln im Bauch bog sie in die nächste
Gasse ein, um zu einem Lokal zu gelangen, das sie erst vor ein paar Nächten
entdeckt hatte. Innendrin war es sehr voll und auch etwas stickig, aber das
störte sie nicht. Am Tresen wurde sie gefragt, was sie trinken wolle, und sie
entschied sich ohne Zögern für ein Bier. Als Königin hantierte man selten mit
Kleingeld, deswegen half sie sich, indem sie unauffällig in die Tasche ihres
Nachbars griff. Normalerweise war sie ein sehr aufrichtiger, ehrlicher Mensch.
Durch diese kleinen Abenteuer entdeckte sie ganz neue Seiten an sich. Das
Ungewöhnliche war eigentlich, dass sie von Anfang an keinerlei Skrupel gespürt
hatte. Vielleicht lag es an ihrer Kleidung. Sie war hier ein anderer Mensch,
eine von allen anderen. Hier fiel sie nicht auf, konnte sich unter die Menge
mischen.
Nachdenklich überlegte sie, wie diese Leute wohl über
sie, die Königin, dachten. Kurz entschlossen entschied sie sich dafür, einfach
herumzufragen. Ihre Neugier brannte ihr auf der Haut. „Was denken Sie von der
Königin, Miss?“, fragte sie unverblümt. „Ich weiß nichts über sie außer ihrem
Stand in der Gesellschaft und dass sie stets prächtige Kleider trägt“,
erwiderte die Barkeeperin vorsichtig, während sie Gläser abtrocknete. Nicht immer, sagte sich die Königin in
Gedanken amüsiert. Dennoch war sie verwundert. „Denken Sie gar nicht über sie
nach? Haben Sie kein festes Bild von ihr?“ „Sind Sie eine Spionin?“ Die Frau
war argwöhnisch geworden. „Nein, nein“, antwortete ihre Gesprächspartnerin
rasch, „ich arbeite nur im Schloss und weiß nicht, was ich von der Königin
halten soll.“ Sie war ziemlich stolz auf sich, weil alles, was sie gesagt hatte
so ziemlich der Wahrheit entsprach. Als sie weit nach Mitternacht wieder in
ihren Gemächern lag, dauerte es lange, bis ihre Gedanken sie ins Reich der
Träume führten; die erhaltenen Antworten wollten ihr einfach nicht auf dem
Kopf.
Leider durfte sie sich ihren fehlenden Schlaf am
nächsten Morgen nicht anmerken lassen. In ihrem Stand hatte man Haltung zu
bewahren. Heute sollte ihr Tag wenigstens ein bisschen spannender werden, da
sie für ein paar Fälle beim Obersten Gericht gebraucht wurde. Seufzend ließ sie
sich ihr enges Kleid zuschnüren. Es mochte nicht so aussehen, aber die weiten,
bauschigen Röcke und Mieder, die einem fast die Luft abschnürten, waren eher
eine Bürde beim Fortbewegen. Diese Last schleppte sie jeden Tag mit sich herum,
wenn sie auch weitaus geringer als andere war: Das gesamte Königreich lag auf
ihren Schultern. Manchmal drohte sie beinahe zu ersticken. Für ihre jungen
Jahre hatte sie eine so gewaltige Verantwortung. Wer gab ihr das Recht, Leute
zum Tode zu verurteilen? Welche ihrer Gaben rechtfertigten ihre oft so
grausamen Taten? Gewiss gab es zwei Dutzend Männer und Frauen ihres Reiches,
die perfekt als Herrscher geeignet wären. Nur, weil sie aus dieser Familie
stammte, machte es sie nicht zu einer würdigen Königin.
Mit diesen Zweifeln betrat sie die Gerichtshalle. Der
erste Mann, der hereingeführt wurde, war des Diebstahls angeklagt. Er wurde zu
drei Jahren Gefängnis verurteilt. Automatisch fühlte sie sich schuldig. Sie
hatte nicht gewusst, dass die Strafe für Diebstahl so hoch war, das eben hätte
sie sein können. Dann wurde ihre bewusst, dass ihr prächtiges Kleid nicht nur
eine Last, sondern auch ihr größter Schutz war. Mit ihm fühlte sie sich sicher.
~Ende September 2016~
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen