Freitag, 12. August 2016

Die Wiederkehr

Nela spürte den Zug schon vom Weiten. Die Gleise vibrierten. In ihrer Flies-Jacke fror sie bei diesen Temperaturen. Einen Schal hatte sie auch in der Eile vergessen. Ihr Atem stieß weiße Wölkchen aus. Sie hörte ein ohrenbetäubendes Pfeifen. Gleich war es so weit. Wie würde er reagieren? Nach dieser langen Zeit würde er sie vielleicht gar nicht mehr kennen. Sie hatte sich einen genauen Plan entworfen, wie sie vorgehen würde. Spontan überlegte sie sich etwas Anderes. Schnell huschte sie hinter eine farblose Säule. Die sichere Variante. Der ICE fuhr in den Bahnhof ein. Nela suchte mit ihren Augen nach ihm in den Zugfenstern, die die Fahrgäste zeigten, sofern das bei der Geschwindigkeit möglich war. War er der Junge im zweiten Abteil, der, der gelangweilt aus dem Fenster sah? Oder doch der, der seinen Kopf auf die Knie stützte, als wüsste er nicht mehr weiter? Sie wusste es nicht. Sie hatte immer gedacht, auch wenn sie sich nicht genau an ihn erinnern konnte, so würde sie ihn aber erkennen.  Entmutigt ließ sie sich hängen. Das ganze Suchen, Recherchieren, alles umsonst? Nein, aufgeben würde sie jetzt noch nicht. Sie wartete bis der Zug langsamer wurde und schließlich zum Stehen kam. Angespannt und aufgeregt geduldete sie sich, die Türen wurden geöffnet. Viele verschiedene Leute strömten mit Koffern, Taschen und Rucksäcken heraus. Überwältigt stand sie da, unfähig sich zu bewegen. Das war der Moment auf den sie so lange gehofft, sich immerzu gesehnt hatte. Auf einmal fing ihre Hand an zu kribbeln, während sie einen nach ihrer Schätzung 17-Jährigen Jungen erblickte. Ihre Blicke trafen sich. Der Zug war nun fast leer. Und immer weiter, als gäbe es kein Ende, liefen Personen in Massen über den Bahnhof, kämpften sich durch das Gewühl. Doch er blieb einfach stehen und erwiderte ihren Blick. Nela sog die Luft ein. Ihr Herz klopfte schneller. Wie sehr er sich verändert hatte. Er war reifer und größer geworden. Wenn ihr nicht ihr Inneres geholfen hätte, so hätte sie ihn niemals erkennen können. Der Bahnsteig war jetzt beinahe verlassen. Und sie rührte sich immer noch nicht. Ein Kampf fand in ihr statt. Was sollte sie denn jetzt tun? Laut seinen Namen zu rufen, wie sie es sich ausgemalt hatte, kam ihr sehr unpassend vor. Plötzlich gewann ihr Körper die Oberhand und sie stolperte ein paar Meter vor. Wie seltsam das auf einen Außenstehenden wirken musste. Überrascht merkte sie, dass sie weinte. Tränen tropften auf den kalten, dreckigen Steinboden unter ihren Füßen. Sie wollte sich beherrschen, doch es hörte einfach nicht auf. Im Gegenteil, es wurde immer heftiger, bis sie auf dem Boden kauerte und ihr Körper bebte. Sie hob ihren Blick. Er kam ganz langsam näher. Sein Gesicht war nur noch ein Meter entfernt. „Ist alles in Ordnung?“, fragte er leise. Seine Stimme war rau und tief, nicht mehr hoch und kindlich, wie sie einmal gewesen war. Noch während sie ihn anblickte, stand sie auf. Ihre Arme schlossen sich von selber um seinen kräftigen Körper. Ihre Tränen versiegten, denn sie war einfach froh, ihren Bruder wieder zu sehen, und seine Anwesenheit zu spüren.

Bei dieser Kurzgeschichte habe ich mich vor allem auf die Beschreibung der Umwelt konzentriert. Ein wenig übertrieben, ich weiß. Ich habe einen Hang zum Dramatischen. Ein Werk von Januar 2015.

Und dann begann mein Leben

Sie sah mich. Ich rannte auf sie zu. Nur noch zwei Meter. Meine Arme umschlossen ihren zierlichen Körper. Mir standen die Tränen in den Augen. Ich spürte, wie ich zu weinen begann, mit einer einzelnen Träne beginnend. Ich wollte den Mund aufmachen, um etwas zu sagen, doch meine Freundin kam mir zu vor. Erleichterung erfüllte mich, endlich konnte ich sie wieder in meine Arme schließen. „Hey, ich hab dich doch. Du brauchst nichts zu sagen“, beruhigte mich Julie. Sie wusste immer genau, was ich brauchte und wollte. Die Dankbarkeit, dass ich eine so tolle Freundin hatte, verschwand aber schnell wieder, um der nächsten Welle von Trauer Platz zu machen. Das Bild des Grabes, ihres Grabes, erschien mir erneut vor Augen. Ihr Lachen, ihr Strahlen, das alles schmerzte mich so sehr. „Es tut mir leid“, brachte ich schließlich hervor, nachdem ich mich ein wenig beruhigt hatte. „Dir sollte gar nichts leidtun.“ Julie sah streng zu mir hinunter. „Wenn überhaupt jemandem irgendwas leidtun muss, dann mir.“ Wegen der Überraschung war ich für ein paar Augenblicke abgelenkt. „Was…wieso?“ Meine Stimme war vom Weinen belegt. Leise seufzte Julie und senkte den Blick. „Ich war so egoistisch und bin im Urlaub geblieben, statt zu dir zurückzukommen und dich zu stützen. Aya, es tut mir so leid, was bin ich nur für eine Freundin?“ Sie schniefte. Ungläubig starrte ich sie an. „Was?“, fragte sie unsicher. Langsam schüttelte ich den Kopf. „Du bist die beste Freundin die ich je hatte, du hast mich immer unterstützt, ich fasse es nicht, dass ausgerechnet du an dir zweifelst. Du hast wirklich keinen Grund dazu. Ist doch selbstverständlich, dass du nicht bei dem kleinsten Weh-Wehchen zurückkommst. Mein Gott, wir sind 15!“ Etwas drückte mein Herz zusammen und ich schaffte es nicht mehr, ihren Blick zu halten. „Auch wenn ein Tod längst keine Kleinigkeit ist.“ Ich brach ab. Julie wurde wieder sanft. „Natürlich nicht.“ Ich merkte, wie sie nach Worten suchte. „Hatte sie Schmerzen?“ „Ich weiß es nicht. Ich meine … ein Tumor ist normalerweise kein Spaziergang“, flüsterte ich. Meine Augen wurden glasig. „Ich habe auch noch ihren Namen ausgesucht. Hisa bedeutet langlebig und dann wird sie gerade mal zwei Jahre alt! Ist das nicht ironisch?“, zischte ich auf einmal bitter. Ich war so laut, dass ich schon fast schrie. Erschrocken über meinen plötzlichen Wutausbruch fing ich schon wieder an zu weinen. Ich atmete schwer. Die Wut verflog so schnell wie sie gekommen war. Stattdessen machte sich eine noch viel schlimmere Leere in mir breit. Meine Freundin betrachtete mich forsch. „Ich denke, Ablenkung ist das einzige, was jetzt hilft“, sagte sie schließlich.

Ich starrte in mein Spiegelbild. Verquollene Augen blickten mir entgegen. Mein komplettes Gesicht war sehr blass und dazu noch geschwollen. Da ich in letzter Zeit einfach nicht schlafen konnte, hatte ich natürlich tiefschwarze Augenringe. Schwarze Haare umrahmten normalerweise elegant mein Gesicht, doch jetzt waren sie zottelig und hingen ohne jegliches Volumen herunter. Kurz: Ich sah schrecklich aus. In den letzten Tagen hatte ich eben nicht sonderlich auf meine Erscheinung geachtet. Meine psychische Verfassung hatte sich sehr auf meine physische ausgewirkt. Was spielte es auch für eine Rolle, wie ich aussah, wenn meine kleine Schwester tot war? Tot. Zum ersten Mal konnte ich dieses Wort denken, ohne dass ich in Tränen ausbrach. Ich schloss kurz meine Augen. Tief holte ich Luft und fing an mich wieder herzurichten. Auf einmal fing meine Hand, in der sich die Bürste befand, zu zittern. Es kostete mich meine ganze Kraft, sie noch festzuhalten. Ich versuchte sie kontrolliert wieder auf das Waschbecken zu legen, was mir dann auch mehr oder weniger gelang. Als ich erneut in den Spiegel sah, rannen mir Schweißperlen das Gesicht hinunter.
Erschöpft wankte ich die Treppe hinunter, dabei war ich erst gerade aufgestanden. Mir war schwindelig, ich konnte mich kaum auf den Beinen halten. Meine Stirn war heiß und meine Augen brannten. „Ayaka! Komm je…“ Mama hielt inne, als sie mich erblickte. Auch ihr ging es offensichtlich nicht besonders gut, was man ihr ja nicht verübeln würde, schließlich hatte sie auch unter Hisas Tod gelitten, aber mein Anblick war wahrscheinlich noch viel schlimmer. „Geht’s dir nicht gut?“, fragte sie besorgt, aber dennoch sofort auf den Punkt. So war sie eben. Schwach wie ich war, wollte ich den Kopf schütteln, doch gerade so konnte ich mich noch dazu zwingen ein Lächeln hervorzubringen. „Doch“, keuchte ich. Sie hatte wirklich andere Probleme, als meine Gesundheit. Mama runzelte die Stirn. „Schatz, lüg mich nicht an. Du bleibst heute zu Hause und wenn es dir schlechter geht, müssen wir zum Arzt“, bestimmte sie scharf. Ich hätte eigentlich erstaunt sein müssen – normalerweise gab es keine Ausnahme, was Schule betraf – aber da ich zu müde war, trottete ich langsam wieder Richtung Zimmer. Als ich mich von meiner Mutter abwandte, spürte ich noch ihren sorgenvollen Blick in meinem Nacken.
Am Abend hatte sich meine Lage nicht verbessert, im Gegenteil. Mit einer warmen Decke lag ich auf dem Sofa neben meiner Mutter und schaute Fernsehen, doch ich konnte mich nicht richtig konzentrieren. Ich hörte meine Mutter murmeln: „Aber vor ein paar Tagen ging es ihr doch beinahe perfekt – wenn man nur von ihrem Körper ausgeht.“ Die nächsten Worte sagte sie in normaler Lautstärke zu mir. „Ich würde ja mit dir zum Arzt gehen, Aya, aber der hat leider schon zu und Krankenhaus ist mir noch zu voreilig.“ Schlapp zuckte ich mit den Schultern. Das war mir egal.

Am Ende landeten wir dann doch im Krankenhaus, weil sich meine Lage dramatisch verschlechtert hatte. Der Kopf einer Krankenschwester zeigte sich durch einen Türrahmen. „Ayaka Yamamoto, bitte“, rief sie uns als Nächstes auf. Inzwischen war ich so ausgelaugt, dass ich alles nur verschwommen zwischen meinen fast geschlossenen Augenlidern wahrnahm. Mama musste mich stützen. Nach schon ein paar Sekunden, so kam es mir jedenfalls vor, waren wir auch schon wieder aus dem Zimmer draußen. Da ich, wenn auch nur ein ganz klein wenig, neugierig und vielleicht auch besorgt war, was denn nun Sache war, zwang ich mich kurz zu konzentrieren. Ein Blick auf meine Mutter genügte, um mir ein mulmiges Gefühl zu geben. Sie sah angespannt aus; ihre Lippen zusammengepresst, ihre Augen zu Schlitzen verzogen, ihre Wangenknochen herausstechend. So hatte sie das letzte Mal kurz vor Hisas letztem Besuch beim Arzt ausgesehen. Das war wirklich gar nicht gut. Das Ganze realisierte ich erst wieder später, als ich schon einige Untersuchungen hinter mir gehabt hatte. Irgendwann musste Mama Julie und meinen Vater angerufen haben, denn ich hatte, denn meine beste Freundin hielt neben mir meine Hand und Papa sprach leise mit meiner Mutter, als dann ein Arzt auf uns zukam. Wenn mich meine Erinnerung nicht trübt, was durchaus der Fall sein kann, machte er eine mitleidige Miene. Ich spürte gerade so, wie Julie meine Hand angstvoll drückte und meine Eltern die Luft anhielten. Wieso waren alle so unruhig? Der Mann im weißen Kittel fing an zu sprechen. Er sprach langsam und sanft, wie mit Kindergartenkindern. Meine Wahrnehmung klärte sich genau zur richtigen Stelle. Gerade hatte Dr. Scherbers sein letztes Wort gesprochen, da hörte ich Mama aufschluchzen. Julie zuckte so stark zusammen, dass ich fürchtete sie könnte zusammenbrechen. Als ich mich umdrehte wollte meine Mutter wegrennen, doch mein Vater hielt sie zurück. Durch diese plötzliche Verzweiflung von allen füllten sich meine Augen ebenfalls mit Tränen, obwohl ich nicht wusste, warum alle so aufgelöst waren. Aber es war nicht schwer, es sich selber zu denken: Ich hatte eine schlimme Diagnose bekommen. Bei den anschließenden Worten des Arztes bestätigte es sich noch einmal von selbst. „Ayaka?“ Er sprach meinen Namen seltsam abgehackt aus. Wie ein Fremdwort, das er neu lernte. Sein Blick streifte meine Augen erneut. „Weißt du was ich gesagt habe? Du hast Leukämie. Deine Lebenserwartung liegt bei ungefähr einem Monat.“ Und dann begann mein Leben.

Die Geschichte ist im Frühjahr 2015 entstanden.

Tonnen aus Blei

 Es war einmal ein Mädchen namens Sophia, das durchbrach langsam die Hülle seiner eigenen Welt, um einen Blick in die Wirklichkeit zu wagen. Sophia war gerade so alt, dass die Schwelle des Erwachsenwerdens schon fast in Sicht war. Viele ihrer Freunde wirkten schon sehr erwachsen, doch sie hatte das noch nie zu hören bekommen. Eines Tages war die Woche ihrer Konfirmation gekommen. Für Samstag luden ihre Eltern alle Gäste zu sich zu Kaffee und Kuchen nach Hause. Aber ihre Eltern hatten ihr Geschenk noch nicht fertig und die Vorbereitungen für den morgigen Tag waren auch noch am Laufen. Also sagte der Vater zu seiner Tochter: „Sophia, würdest du für die Gäste alles vorbereiten? Wir dachten, du würdest dich freuen, ein wenig Verantwortung zu übernehmen.“ Und tatsächlich tat sie das. Das war ihre Chance, ihr Können zu beweisen. Freitags nach der Schule ging sie einkaufen, um das Nötigste zu besorgen. Voller Vorfreude beeilte sie sich, den Heimweg anzutreten, sofern das mit vollgepackten Tüten voller Kuchenzutaten, Sahne, Servietten und noch vielem mehr möglich war. Angekommen backte sie, was das Zeug hielt. Als sie schon den ziemlich trockenen Teig in den Ofen geschoben hatte, fiel ihr plötzlich auf, dass sie vergessen hatte, Milch zu kaufen. Mit Entsetzen beobachtete Sophia, wie die Kuchen in sich zusammenfielen. Sie suchte ein Rezept ohne Milch, denn mittlerweile war es zu spät geworden, als dass sie noch hätte zum Supermarkt zurückkehren können. Zum Glück fand sie schnell eine Anleitung für einen Nusskuchen mit nur ganz wenigen Zutaten. Diesen machte sie gleich zweimal, verzierte den einen aber mit Schokoladenglasur, damit sich die beiden wenigstens ein bisschen unterschieden. Letztendlich war Sophia sehr mit sich zufrieden. Erschöpft legte sie sich ins Bett und war gleich eingeschlafen.

Als sie am nächsten Tag aufwachte, stand sie gleich auf und machte sich an die auf sie wartende Arbeit. Ein Zettel ihrer Eltern, die Sophia ihre kurze Abwesenheit erklärten, lag auf dem Schuhschrank. Sie verwandelte den Tisch in eine lange Tafel und legte die beste Tischdecke, die sie fand, darauf. Schon bald hatte sie ordentlich Geschirr und Besteck gedeckt, nur noch Servietten fehlten. Nachdem sie die erste Packung verbraucht hatte, wollte sie neue holen, doch die einzigen, die sie fand, hatten Weihnachtsmotive. Sie hatte die Falschen gekauft! Eine Wahl hatte sie nicht, besser diese, als gar keine. Leider bissen die Farben sich mit den anderen, und man konnte ebenfalls nicht von Harmonie zur Tischdecke reden. Mittlerweile kamen Sophia Zweifel und ihre Begeisterung war gebremst worden. Für viel Nachdenken blieb ihr aber keine Zeit – die Gäste könnten jederzeit da sein. Und dann war es so weit. Beinahe pausenlos klingelte es die nächsten drei Minuten. Schon bald war das Haus durch heiteres Gerede und Gläserklirren erfüllt. Sophia wurde es ganz warm um ihr Herz, als alle auf sie anstießen. Schließlich waren so viele Leute teilweise weit gereist, nur um bei ihrer Konfirmation zu sein. Trotzdem war die Stimmung nicht ganz ausgelassen, das merkte auch sie. Mehrmals beäugten Gäste skeptisch die seltsame Farbkombination der Servietten, doch niemand sprach es laut aus, bis Oma Waltraud fragte: „Sag mal Kindchen, hab ich Alzheimer oder warum ist es heute Weihnachten?“ Die Tischgesellschaft lachte, Sophia fand das aber nicht lustig. Es war das erste Mal, dass sie sich wirklich Mühe gegeben hatte und da wollte sie nicht ausgelacht werden.
Wenigstens schienen die Kuchen zu schmecken, sogar ihre Tante Sabine, die normalerweise sehr kleinlich war, was Essen betraf, nahm ein Stück von dem Schoko-Nuss-Kuchen. Auf einmal fing diese aber furchtbar an zu husten, so, als ob sie keine Luft mehr bekommen würde. Das Mädchen, das vorher noch im Mittelpunkt gestanden hatte,  war völlig erstarrt, unfähig, sich zu rühren. Dafür handelten die anderen schneller. „Sieht mir nach einer allergischen Reaktion aus“, urteilte Opa Hans besorgt. Bei diesen Worten zuckte Sophias Vater zusammen und drehte sich langsam zu ihr um. „Was hast du in den Kuchen hineingetan, Sophia?“, fragte er mit gefährlich ruhiger Stimme. Die Angesprochene senkte den Blick und murmelte kleinlaut: „Eier, Nüsse ,-“, weiter kam sie nicht. „NÜSSE?“, donnerte mein Vater los. Die arme Sabine wurde schon ganz rot, weil niemand auf die Idee kam, ihr zu helfen. „Das bringt doch nichts“, meinte seine Frau beschwichtigend. „Los, schnell, in der Tasche dort müsste ein kleines Fläschchen sein, das die Allergie bekämpft!“ Die Personen, die der Tasche am nächsten waren, spurteten los und brachten das gesuchte Medikament der nach Atem ringenden Frau. Sophia aber bekam das alles gar nicht mehr mit, denn sie war schon längst nach oben in ihr Zimmer gestürzt, wo sie ihren angestauten Tränen freien Lauf lassen konnte. Ihre Enttäuschung war einfach zu groß. Nachdem sich ihre Mutter versichert hatte, dass es ihrer Schwester gut ging, folgte sie ihr. Die Frau fand das Mädchen zusammengekauert in seinem Bett. „Sophia?“, fragte sie leise. Stille. „Was ist los?“ Sie ließ nicht locker. Entschlossen ging die Mutter auf das Bett ihrer Tochter zu. Ein Schluchzer ertönte daraus. „Heißt es das, erwachsen zu werden? Dass sich das Herz so anfühlt, als wären Tonnen aus Blei darauf?“ Verständnisvoll blickte die Frau direkt in die Augen der Jugendlichen, in denen Wasser glitzerte. „Manchmal schon, meine Süße. Du trägst Verantwortung. Das ist der erste Schritt.“ Sophia legte den Kopf schief. „Dann möchte ich das nicht. Es ist so viel einfacher, Kind zu bleiben“, flüsterte sie anklagend. „Das kannst du aber nicht“, erwiderte die Mutter plötzlich düster. Sie fing sich wieder. „Lass mich dir eine Geschichte erzählen. Zwei Männer sind arbeitslos. Sie haben beide Familien zu ernähren, tragen Verantwortung für sie. Weil sie keine Arbeit haben, bekommen sie Geld vom Staat – Harz IV. Der Eine von beiden findet, dass das Geld, was er bekommt, ausreicht. Deswegen bleibt er lieber zu Hause und will gar keine Arbeit. Sein Geld ist zwar knapp, aber ausreichend. Der zweite Mann geht ständig zu Bewerbungsgesprächen, aber es will einfach nicht klappen. Er ist sehr traurig, da er seinen Kindern nicht alles bieten kann, was sie wollen.“ „Dann bin ich erwachsen, wenn ich viel Geld habe“, schlussfolgerte Sophia eifrig. „Nein, du hast es noch nicht ganz verstanden. Ich erzähle dir eine zweite Geschichte. Also, ein Mann ist Banker. Er muss in seinem Beruf Geld von Investoren verwalten. In einer bestimmten Zeitspanne muss er einen bestimmten Gewinn machen. Das hängt von verschiedenen Dingen ab. Wenn er viel aus diesem Geld macht, bekommt er auch einen größeren Teil. Einmal hat er großes Glück gehabt und jetzt ist er reich. Findest du, dass er besonders viel Verantwortung zu tragen hat, nur, weil er reich ist? Denke an den Mann, der so stark versucht, eine Arbeit zu bekommen.“ Sophia sah nachdenklich aus. „Das eine hängt nicht mit dem anderen zusammen, stimmt’s? Ich muss einfach mit den Konsequenzen leben und das Beste daraus machen.“ Ihre Mutter sagte nichts, sie war zu erfüllt mit warmem Stolz.
Seit diesem Gespräch ist viel passiert. Heute ist Sophia – bin ich – mehrfache Großmutter, deren Blüte des Lebens schon fast verwelkt ist. Tief in mir drinnen befindet sich noch eine wohl behütete Knospe, die Knospe der Kindheit. Ich bin dankbar für das, was Mama mir vermittelt hat.

Aber – wer würde nein sagen, wenn er die Möglichkeit hat, das Leben nochmal aus der Sicht eines Kindes zu sehen?

Diese Geschichte habe ich dieses Jahr für einen Schreibwettbewerb zum Thema "Erwachsenwerden" verfasst.