Samstag, 10. Dezember 2016

Zuversicht und Hoffnung


Immer noch entsetzt starrt sie auf den leblosen Körper, der vor ihr auf dem nackten Boden liegt. Entkräftet sinkt sie zu Boden und ihr entfährt ein leises Wimmern, was sich zu einem Klagen erhebt. Nun schreit sie fast. „Ich weiß, ich habe viele Fehler gemacht, aber warum müsst ihr mir alles nehmen? Das habe ich nicht verdient!“, versucht die junge Frau den Wind zu übertönen, der ihr um die Ohren saust. Laut teilt sie ihr Leid um ihr letztverbliebenes Stück Liebe und Geborgenheit. Man kann förmlich sehen, wie ihr Herz in noch kleinere Stücke zerbricht, sodass kaum nur noch Splitter übrig sind.  Eine Welle tiefer Erschöpfung übermannt sie und sie kuschelt sich neben den toten Kater, voller verzweifelter Hoffnung, noch ein letztes Lebenszeichen zu erhaschen.
Als sie die Augen wieder öffnet, bricht ein neuer Tag an. Der Himmel ist blau und die Vögel zwitschern fröhlich. Doch diese helle Welt gibt es nicht wirklich, das kann man auf den ersten Blick sehen, wenn man das arme Mädchen in der tiefen Trauer und das jetzt vollkommen erkaltete Fellbündel erfasst. Ihre Angst um die Zukunft sprießt aus ihren weit aufgerissenen Augen. Die Wirklichkeit ist grausam. Nach ein paar Herzschlägen weicht diese jedoch einer kalten Entschlossenheit. Vorsichtig schließt sie ihre Hände um den Kater und hebt ihn in ihre Arme. Noch einmal hofft sie, dass sie einen Protest ihres Freundes hört oder fühlt, aber es herrscht Stille. Ohne irgendwelche Gefühle trägt sie den schlaffen Körper aus der Holzhütte in den Wald. Mit bloßen Händen fängt sie an, ein großes Loch in die weiche Erde zu graben. Sie merkt gar nicht, wie die Zeit Stück für Stück voranschreitet und als sie mit dem Begräbnis fertig ist, steht die Sonne schon hoch über den Bergen. Seltsamerweise hat sie keine Spuren dieser körperlich schweren Arbeit an sich, nur ihre geröteten Augen könnten auf die Geschehnisse hindeuten.
Mit einem letzten Blick auf das Grab wendet sie sich zur Stadt, ihre letzte Möglichkeit zu überleben. Schon bald kommen erste Häuser zum Vorschein und innerhalb kurzer Zeit befindet sie sich inmitten zahlloser Gebäude. Überall sind Leute. Bei den vielen, schnellen Bewegungen wird ihr ganz schwindlig und sie rettet sich an eine Hauswand am Rande des Getümmels. Hinter ihr knistert etwas und sie zuckt erschrocken zusammen, denn eine gut gekleidete Frau mustert sie von oben bis unten. Langsam dreht sie sich zu dem Aushang hinter ihr um, der dieses Geräusch verursacht hat. Bei dieser darauf stehenden Anzeige spürt sie ein wenig Zuversicht in sich flattern:
DIENSTMÄDCHEN GESUCHT!
Die Frau geht langsam auf sie zu. „Und? Was meinst du?“ Und da spürt sie, dass die Götter ihr vergeben haben, denn ein neues Leben beginnt.

~ Februar 2016 ~

Kleider machen Leute

Eine weitere aufregende Nacht stand ihr bevor. Es war ihr schon so vertraut, sich unbemerkt aus dem Schloss zu schleichen, dass sie es beinahe ohne Nachdenken tat. Mit ihrem schwarzen Kapuzenumhang war sie nur schwer als das zu erkennen, was sie eigentlich war; die Königin dieses Landes. Jedes Mal verspürte sie ein leichtes schlechtes Gewissen, wenn sie nachts an den Wachen vorbeihuschte, aber tagsüber starb sie fast an Langeweile, wenn sie mit einem weiteren Stapel Papiere zum Unterschreiben konfrontiert wurde. Diese Nächte waren die einzige Ausflucht aus dieser öden Welt.
Als dunkle Gestalt fiel sie in den Gassen ihrer Stadt kaum auf. Sicherheitshalber trug sie dennoch immer ein Messer in ihren Stiefeln. Sie wusste zu wenig, um auch ohne ihre Aufmachung sicher gehen zu können, nicht erkannt zu werden. Bestimmt wollten sie viele Leute tot sehen. Es war seltsam, eine ganz andere Person zu sein, obwohl sie nur andere Kleidung trug. Ihr gefiel diese Person. Es forderte sie heraus, eine komplett neue Identität nur mit ihrem Kopf zu kreieren. Diese Art von Spaß wurde bei ihren alltäglichen Aufgaben nicht gefordert.
Mit einem Kribbeln im Bauch bog sie in die nächste Gasse ein, um zu einem Lokal zu gelangen, das sie erst vor ein paar Nächten entdeckt hatte. Innendrin war es sehr voll und auch etwas stickig, aber das störte sie nicht. Am Tresen wurde sie gefragt, was sie trinken wolle, und sie entschied sich ohne Zögern für ein Bier. Als Königin hantierte man selten mit Kleingeld, deswegen half sie sich, indem sie unauffällig in die Tasche ihres Nachbars griff. Normalerweise war sie ein sehr aufrichtiger, ehrlicher Mensch. Durch diese kleinen Abenteuer entdeckte sie ganz neue Seiten an sich. Das Ungewöhnliche war eigentlich, dass sie von Anfang an keinerlei Skrupel gespürt hatte. Vielleicht lag es an ihrer Kleidung. Sie war hier ein anderer Mensch, eine von allen anderen. Hier fiel sie nicht auf, konnte sich unter die Menge mischen.
Nachdenklich überlegte sie, wie diese Leute wohl über sie, die Königin, dachten. Kurz entschlossen entschied sie sich dafür, einfach herumzufragen. Ihre Neugier brannte ihr auf der Haut. „Was denken Sie von der Königin, Miss?“, fragte sie unverblümt. „Ich weiß nichts über sie außer ihrem Stand in der Gesellschaft und dass sie stets prächtige Kleider trägt“, erwiderte die Barkeeperin vorsichtig, während sie Gläser abtrocknete. Nicht immer, sagte sich die Königin in Gedanken amüsiert. Dennoch war sie verwundert. „Denken Sie gar nicht über sie nach? Haben Sie kein festes Bild von ihr?“ „Sind Sie eine Spionin?“ Die Frau war argwöhnisch geworden. „Nein, nein“, antwortete ihre Gesprächspartnerin rasch, „ich arbeite nur im Schloss und weiß nicht, was ich von der Königin halten soll.“ Sie war ziemlich stolz auf sich, weil alles, was sie gesagt hatte so ziemlich der Wahrheit entsprach. Als sie weit nach Mitternacht wieder in ihren Gemächern lag, dauerte es lange, bis ihre Gedanken sie ins Reich der Träume führten; die erhaltenen Antworten wollten ihr einfach nicht auf dem Kopf.
Leider durfte sie sich ihren fehlenden Schlaf am nächsten Morgen nicht anmerken lassen. In ihrem Stand hatte man Haltung zu bewahren. Heute sollte ihr Tag wenigstens ein bisschen spannender werden, da sie für ein paar Fälle beim Obersten Gericht gebraucht wurde. Seufzend ließ sie sich ihr enges Kleid zuschnüren. Es mochte nicht so aussehen, aber die weiten, bauschigen Röcke und Mieder, die einem fast die Luft abschnürten, waren eher eine Bürde beim Fortbewegen. Diese Last schleppte sie jeden Tag mit sich herum, wenn sie auch weitaus geringer als andere war: Das gesamte Königreich lag auf ihren Schultern. Manchmal drohte sie beinahe zu ersticken. Für ihre jungen Jahre hatte sie eine so gewaltige Verantwortung. Wer gab ihr das Recht, Leute zum Tode zu verurteilen? Welche ihrer Gaben rechtfertigten ihre oft so grausamen Taten? Gewiss gab es zwei Dutzend Männer und Frauen ihres Reiches, die perfekt als Herrscher geeignet wären. Nur, weil sie aus dieser Familie stammte, machte es sie nicht zu einer würdigen Königin.
Mit diesen Zweifeln betrat sie die Gerichtshalle. Der erste Mann, der hereingeführt wurde, war des Diebstahls angeklagt. Er wurde zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Automatisch fühlte sie sich schuldig. Sie hatte nicht gewusst, dass die Strafe für Diebstahl so hoch war, das eben hätte sie sein können. Dann wurde ihre bewusst, dass ihr prächtiges Kleid nicht nur eine Last, sondern auch ihr größter Schutz war. Mit ihm fühlte sie sich sicher.


~Ende September 2016~