Mittwoch, 11. Januar 2017

Nichts kann alles sein

Der Mensch ist so zerbrechlich. Man braucht nur eine Waffe. Noch nicht einmal eine mächtige Waffe. Ein Augenblick kann ein Leben beenden. Ein Wort und du fällst. Immer weiter und weiter. Nichts kann dich noch aufhalten, denn um dich herum ist nur Dunkelheit, ein undurchdringbarer Tunnel aus Einsamkeit. Würde eine Hand durch ihn zu dir gelangen, würdest du sie nicht sehen.

Du fühlst nichts außer Leere. Diese Leere ist unendlich. Einen Herzschlag lang steigt Panik in dir auf, denn deine Entscheidung ist unumkehrbar. Gehst du vor oder zurück? Wagst du es? Das liegt allein bei dir. Ich wage einen Schritt. Nach vorne. Meinen letzten Schritt. Ich trete ins nichts. Der Grund des Tunnels kommt immer näher. Und dann tritt endlich das ein, was ich mir schon so lange ersehnt habe. Frieden.

Samstag, 10. Dezember 2016

Zuversicht und Hoffnung


Immer noch entsetzt starrt sie auf den leblosen Körper, der vor ihr auf dem nackten Boden liegt. Entkräftet sinkt sie zu Boden und ihr entfährt ein leises Wimmern, was sich zu einem Klagen erhebt. Nun schreit sie fast. „Ich weiß, ich habe viele Fehler gemacht, aber warum müsst ihr mir alles nehmen? Das habe ich nicht verdient!“, versucht die junge Frau den Wind zu übertönen, der ihr um die Ohren saust. Laut teilt sie ihr Leid um ihr letztverbliebenes Stück Liebe und Geborgenheit. Man kann förmlich sehen, wie ihr Herz in noch kleinere Stücke zerbricht, sodass kaum nur noch Splitter übrig sind.  Eine Welle tiefer Erschöpfung übermannt sie und sie kuschelt sich neben den toten Kater, voller verzweifelter Hoffnung, noch ein letztes Lebenszeichen zu erhaschen.
Als sie die Augen wieder öffnet, bricht ein neuer Tag an. Der Himmel ist blau und die Vögel zwitschern fröhlich. Doch diese helle Welt gibt es nicht wirklich, das kann man auf den ersten Blick sehen, wenn man das arme Mädchen in der tiefen Trauer und das jetzt vollkommen erkaltete Fellbündel erfasst. Ihre Angst um die Zukunft sprießt aus ihren weit aufgerissenen Augen. Die Wirklichkeit ist grausam. Nach ein paar Herzschlägen weicht diese jedoch einer kalten Entschlossenheit. Vorsichtig schließt sie ihre Hände um den Kater und hebt ihn in ihre Arme. Noch einmal hofft sie, dass sie einen Protest ihres Freundes hört oder fühlt, aber es herrscht Stille. Ohne irgendwelche Gefühle trägt sie den schlaffen Körper aus der Holzhütte in den Wald. Mit bloßen Händen fängt sie an, ein großes Loch in die weiche Erde zu graben. Sie merkt gar nicht, wie die Zeit Stück für Stück voranschreitet und als sie mit dem Begräbnis fertig ist, steht die Sonne schon hoch über den Bergen. Seltsamerweise hat sie keine Spuren dieser körperlich schweren Arbeit an sich, nur ihre geröteten Augen könnten auf die Geschehnisse hindeuten.
Mit einem letzten Blick auf das Grab wendet sie sich zur Stadt, ihre letzte Möglichkeit zu überleben. Schon bald kommen erste Häuser zum Vorschein und innerhalb kurzer Zeit befindet sie sich inmitten zahlloser Gebäude. Überall sind Leute. Bei den vielen, schnellen Bewegungen wird ihr ganz schwindlig und sie rettet sich an eine Hauswand am Rande des Getümmels. Hinter ihr knistert etwas und sie zuckt erschrocken zusammen, denn eine gut gekleidete Frau mustert sie von oben bis unten. Langsam dreht sie sich zu dem Aushang hinter ihr um, der dieses Geräusch verursacht hat. Bei dieser darauf stehenden Anzeige spürt sie ein wenig Zuversicht in sich flattern:
DIENSTMÄDCHEN GESUCHT!
Die Frau geht langsam auf sie zu. „Und? Was meinst du?“ Und da spürt sie, dass die Götter ihr vergeben haben, denn ein neues Leben beginnt.

~ Februar 2016 ~

Kleider machen Leute

Eine weitere aufregende Nacht stand ihr bevor. Es war ihr schon so vertraut, sich unbemerkt aus dem Schloss zu schleichen, dass sie es beinahe ohne Nachdenken tat. Mit ihrem schwarzen Kapuzenumhang war sie nur schwer als das zu erkennen, was sie eigentlich war; die Königin dieses Landes. Jedes Mal verspürte sie ein leichtes schlechtes Gewissen, wenn sie nachts an den Wachen vorbeihuschte, aber tagsüber starb sie fast an Langeweile, wenn sie mit einem weiteren Stapel Papiere zum Unterschreiben konfrontiert wurde. Diese Nächte waren die einzige Ausflucht aus dieser öden Welt.
Als dunkle Gestalt fiel sie in den Gassen ihrer Stadt kaum auf. Sicherheitshalber trug sie dennoch immer ein Messer in ihren Stiefeln. Sie wusste zu wenig, um auch ohne ihre Aufmachung sicher gehen zu können, nicht erkannt zu werden. Bestimmt wollten sie viele Leute tot sehen. Es war seltsam, eine ganz andere Person zu sein, obwohl sie nur andere Kleidung trug. Ihr gefiel diese Person. Es forderte sie heraus, eine komplett neue Identität nur mit ihrem Kopf zu kreieren. Diese Art von Spaß wurde bei ihren alltäglichen Aufgaben nicht gefordert.
Mit einem Kribbeln im Bauch bog sie in die nächste Gasse ein, um zu einem Lokal zu gelangen, das sie erst vor ein paar Nächten entdeckt hatte. Innendrin war es sehr voll und auch etwas stickig, aber das störte sie nicht. Am Tresen wurde sie gefragt, was sie trinken wolle, und sie entschied sich ohne Zögern für ein Bier. Als Königin hantierte man selten mit Kleingeld, deswegen half sie sich, indem sie unauffällig in die Tasche ihres Nachbars griff. Normalerweise war sie ein sehr aufrichtiger, ehrlicher Mensch. Durch diese kleinen Abenteuer entdeckte sie ganz neue Seiten an sich. Das Ungewöhnliche war eigentlich, dass sie von Anfang an keinerlei Skrupel gespürt hatte. Vielleicht lag es an ihrer Kleidung. Sie war hier ein anderer Mensch, eine von allen anderen. Hier fiel sie nicht auf, konnte sich unter die Menge mischen.
Nachdenklich überlegte sie, wie diese Leute wohl über sie, die Königin, dachten. Kurz entschlossen entschied sie sich dafür, einfach herumzufragen. Ihre Neugier brannte ihr auf der Haut. „Was denken Sie von der Königin, Miss?“, fragte sie unverblümt. „Ich weiß nichts über sie außer ihrem Stand in der Gesellschaft und dass sie stets prächtige Kleider trägt“, erwiderte die Barkeeperin vorsichtig, während sie Gläser abtrocknete. Nicht immer, sagte sich die Königin in Gedanken amüsiert. Dennoch war sie verwundert. „Denken Sie gar nicht über sie nach? Haben Sie kein festes Bild von ihr?“ „Sind Sie eine Spionin?“ Die Frau war argwöhnisch geworden. „Nein, nein“, antwortete ihre Gesprächspartnerin rasch, „ich arbeite nur im Schloss und weiß nicht, was ich von der Königin halten soll.“ Sie war ziemlich stolz auf sich, weil alles, was sie gesagt hatte so ziemlich der Wahrheit entsprach. Als sie weit nach Mitternacht wieder in ihren Gemächern lag, dauerte es lange, bis ihre Gedanken sie ins Reich der Träume führten; die erhaltenen Antworten wollten ihr einfach nicht auf dem Kopf.
Leider durfte sie sich ihren fehlenden Schlaf am nächsten Morgen nicht anmerken lassen. In ihrem Stand hatte man Haltung zu bewahren. Heute sollte ihr Tag wenigstens ein bisschen spannender werden, da sie für ein paar Fälle beim Obersten Gericht gebraucht wurde. Seufzend ließ sie sich ihr enges Kleid zuschnüren. Es mochte nicht so aussehen, aber die weiten, bauschigen Röcke und Mieder, die einem fast die Luft abschnürten, waren eher eine Bürde beim Fortbewegen. Diese Last schleppte sie jeden Tag mit sich herum, wenn sie auch weitaus geringer als andere war: Das gesamte Königreich lag auf ihren Schultern. Manchmal drohte sie beinahe zu ersticken. Für ihre jungen Jahre hatte sie eine so gewaltige Verantwortung. Wer gab ihr das Recht, Leute zum Tode zu verurteilen? Welche ihrer Gaben rechtfertigten ihre oft so grausamen Taten? Gewiss gab es zwei Dutzend Männer und Frauen ihres Reiches, die perfekt als Herrscher geeignet wären. Nur, weil sie aus dieser Familie stammte, machte es sie nicht zu einer würdigen Königin.
Mit diesen Zweifeln betrat sie die Gerichtshalle. Der erste Mann, der hereingeführt wurde, war des Diebstahls angeklagt. Er wurde zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Automatisch fühlte sie sich schuldig. Sie hatte nicht gewusst, dass die Strafe für Diebstahl so hoch war, das eben hätte sie sein können. Dann wurde ihre bewusst, dass ihr prächtiges Kleid nicht nur eine Last, sondern auch ihr größter Schutz war. Mit ihm fühlte sie sich sicher.


~Ende September 2016~

Freitag, 12. August 2016

Die Wiederkehr

Nela spürte den Zug schon vom Weiten. Die Gleise vibrierten. In ihrer Flies-Jacke fror sie bei diesen Temperaturen. Einen Schal hatte sie auch in der Eile vergessen. Ihr Atem stieß weiße Wölkchen aus. Sie hörte ein ohrenbetäubendes Pfeifen. Gleich war es so weit. Wie würde er reagieren? Nach dieser langen Zeit würde er sie vielleicht gar nicht mehr kennen. Sie hatte sich einen genauen Plan entworfen, wie sie vorgehen würde. Spontan überlegte sie sich etwas Anderes. Schnell huschte sie hinter eine farblose Säule. Die sichere Variante. Der ICE fuhr in den Bahnhof ein. Nela suchte mit ihren Augen nach ihm in den Zugfenstern, die die Fahrgäste zeigten, sofern das bei der Geschwindigkeit möglich war. War er der Junge im zweiten Abteil, der, der gelangweilt aus dem Fenster sah? Oder doch der, der seinen Kopf auf die Knie stützte, als wüsste er nicht mehr weiter? Sie wusste es nicht. Sie hatte immer gedacht, auch wenn sie sich nicht genau an ihn erinnern konnte, so würde sie ihn aber erkennen.  Entmutigt ließ sie sich hängen. Das ganze Suchen, Recherchieren, alles umsonst? Nein, aufgeben würde sie jetzt noch nicht. Sie wartete bis der Zug langsamer wurde und schließlich zum Stehen kam. Angespannt und aufgeregt geduldete sie sich, die Türen wurden geöffnet. Viele verschiedene Leute strömten mit Koffern, Taschen und Rucksäcken heraus. Überwältigt stand sie da, unfähig sich zu bewegen. Das war der Moment auf den sie so lange gehofft, sich immerzu gesehnt hatte. Auf einmal fing ihre Hand an zu kribbeln, während sie einen nach ihrer Schätzung 17-Jährigen Jungen erblickte. Ihre Blicke trafen sich. Der Zug war nun fast leer. Und immer weiter, als gäbe es kein Ende, liefen Personen in Massen über den Bahnhof, kämpften sich durch das Gewühl. Doch er blieb einfach stehen und erwiderte ihren Blick. Nela sog die Luft ein. Ihr Herz klopfte schneller. Wie sehr er sich verändert hatte. Er war reifer und größer geworden. Wenn ihr nicht ihr Inneres geholfen hätte, so hätte sie ihn niemals erkennen können. Der Bahnsteig war jetzt beinahe verlassen. Und sie rührte sich immer noch nicht. Ein Kampf fand in ihr statt. Was sollte sie denn jetzt tun? Laut seinen Namen zu rufen, wie sie es sich ausgemalt hatte, kam ihr sehr unpassend vor. Plötzlich gewann ihr Körper die Oberhand und sie stolperte ein paar Meter vor. Wie seltsam das auf einen Außenstehenden wirken musste. Überrascht merkte sie, dass sie weinte. Tränen tropften auf den kalten, dreckigen Steinboden unter ihren Füßen. Sie wollte sich beherrschen, doch es hörte einfach nicht auf. Im Gegenteil, es wurde immer heftiger, bis sie auf dem Boden kauerte und ihr Körper bebte. Sie hob ihren Blick. Er kam ganz langsam näher. Sein Gesicht war nur noch ein Meter entfernt. „Ist alles in Ordnung?“, fragte er leise. Seine Stimme war rau und tief, nicht mehr hoch und kindlich, wie sie einmal gewesen war. Noch während sie ihn anblickte, stand sie auf. Ihre Arme schlossen sich von selber um seinen kräftigen Körper. Ihre Tränen versiegten, denn sie war einfach froh, ihren Bruder wieder zu sehen, und seine Anwesenheit zu spüren.

Bei dieser Kurzgeschichte habe ich mich vor allem auf die Beschreibung der Umwelt konzentriert. Ein wenig übertrieben, ich weiß. Ich habe einen Hang zum Dramatischen. Ein Werk von Januar 2015.

Und dann begann mein Leben

Sie sah mich. Ich rannte auf sie zu. Nur noch zwei Meter. Meine Arme umschlossen ihren zierlichen Körper. Mir standen die Tränen in den Augen. Ich spürte, wie ich zu weinen begann, mit einer einzelnen Träne beginnend. Ich wollte den Mund aufmachen, um etwas zu sagen, doch meine Freundin kam mir zu vor. Erleichterung erfüllte mich, endlich konnte ich sie wieder in meine Arme schließen. „Hey, ich hab dich doch. Du brauchst nichts zu sagen“, beruhigte mich Julie. Sie wusste immer genau, was ich brauchte und wollte. Die Dankbarkeit, dass ich eine so tolle Freundin hatte, verschwand aber schnell wieder, um der nächsten Welle von Trauer Platz zu machen. Das Bild des Grabes, ihres Grabes, erschien mir erneut vor Augen. Ihr Lachen, ihr Strahlen, das alles schmerzte mich so sehr. „Es tut mir leid“, brachte ich schließlich hervor, nachdem ich mich ein wenig beruhigt hatte. „Dir sollte gar nichts leidtun.“ Julie sah streng zu mir hinunter. „Wenn überhaupt jemandem irgendwas leidtun muss, dann mir.“ Wegen der Überraschung war ich für ein paar Augenblicke abgelenkt. „Was…wieso?“ Meine Stimme war vom Weinen belegt. Leise seufzte Julie und senkte den Blick. „Ich war so egoistisch und bin im Urlaub geblieben, statt zu dir zurückzukommen und dich zu stützen. Aya, es tut mir so leid, was bin ich nur für eine Freundin?“ Sie schniefte. Ungläubig starrte ich sie an. „Was?“, fragte sie unsicher. Langsam schüttelte ich den Kopf. „Du bist die beste Freundin die ich je hatte, du hast mich immer unterstützt, ich fasse es nicht, dass ausgerechnet du an dir zweifelst. Du hast wirklich keinen Grund dazu. Ist doch selbstverständlich, dass du nicht bei dem kleinsten Weh-Wehchen zurückkommst. Mein Gott, wir sind 15!“ Etwas drückte mein Herz zusammen und ich schaffte es nicht mehr, ihren Blick zu halten. „Auch wenn ein Tod längst keine Kleinigkeit ist.“ Ich brach ab. Julie wurde wieder sanft. „Natürlich nicht.“ Ich merkte, wie sie nach Worten suchte. „Hatte sie Schmerzen?“ „Ich weiß es nicht. Ich meine … ein Tumor ist normalerweise kein Spaziergang“, flüsterte ich. Meine Augen wurden glasig. „Ich habe auch noch ihren Namen ausgesucht. Hisa bedeutet langlebig und dann wird sie gerade mal zwei Jahre alt! Ist das nicht ironisch?“, zischte ich auf einmal bitter. Ich war so laut, dass ich schon fast schrie. Erschrocken über meinen plötzlichen Wutausbruch fing ich schon wieder an zu weinen. Ich atmete schwer. Die Wut verflog so schnell wie sie gekommen war. Stattdessen machte sich eine noch viel schlimmere Leere in mir breit. Meine Freundin betrachtete mich forsch. „Ich denke, Ablenkung ist das einzige, was jetzt hilft“, sagte sie schließlich.

Ich starrte in mein Spiegelbild. Verquollene Augen blickten mir entgegen. Mein komplettes Gesicht war sehr blass und dazu noch geschwollen. Da ich in letzter Zeit einfach nicht schlafen konnte, hatte ich natürlich tiefschwarze Augenringe. Schwarze Haare umrahmten normalerweise elegant mein Gesicht, doch jetzt waren sie zottelig und hingen ohne jegliches Volumen herunter. Kurz: Ich sah schrecklich aus. In den letzten Tagen hatte ich eben nicht sonderlich auf meine Erscheinung geachtet. Meine psychische Verfassung hatte sich sehr auf meine physische ausgewirkt. Was spielte es auch für eine Rolle, wie ich aussah, wenn meine kleine Schwester tot war? Tot. Zum ersten Mal konnte ich dieses Wort denken, ohne dass ich in Tränen ausbrach. Ich schloss kurz meine Augen. Tief holte ich Luft und fing an mich wieder herzurichten. Auf einmal fing meine Hand, in der sich die Bürste befand, zu zittern. Es kostete mich meine ganze Kraft, sie noch festzuhalten. Ich versuchte sie kontrolliert wieder auf das Waschbecken zu legen, was mir dann auch mehr oder weniger gelang. Als ich erneut in den Spiegel sah, rannen mir Schweißperlen das Gesicht hinunter.
Erschöpft wankte ich die Treppe hinunter, dabei war ich erst gerade aufgestanden. Mir war schwindelig, ich konnte mich kaum auf den Beinen halten. Meine Stirn war heiß und meine Augen brannten. „Ayaka! Komm je…“ Mama hielt inne, als sie mich erblickte. Auch ihr ging es offensichtlich nicht besonders gut, was man ihr ja nicht verübeln würde, schließlich hatte sie auch unter Hisas Tod gelitten, aber mein Anblick war wahrscheinlich noch viel schlimmer. „Geht’s dir nicht gut?“, fragte sie besorgt, aber dennoch sofort auf den Punkt. So war sie eben. Schwach wie ich war, wollte ich den Kopf schütteln, doch gerade so konnte ich mich noch dazu zwingen ein Lächeln hervorzubringen. „Doch“, keuchte ich. Sie hatte wirklich andere Probleme, als meine Gesundheit. Mama runzelte die Stirn. „Schatz, lüg mich nicht an. Du bleibst heute zu Hause und wenn es dir schlechter geht, müssen wir zum Arzt“, bestimmte sie scharf. Ich hätte eigentlich erstaunt sein müssen – normalerweise gab es keine Ausnahme, was Schule betraf – aber da ich zu müde war, trottete ich langsam wieder Richtung Zimmer. Als ich mich von meiner Mutter abwandte, spürte ich noch ihren sorgenvollen Blick in meinem Nacken.
Am Abend hatte sich meine Lage nicht verbessert, im Gegenteil. Mit einer warmen Decke lag ich auf dem Sofa neben meiner Mutter und schaute Fernsehen, doch ich konnte mich nicht richtig konzentrieren. Ich hörte meine Mutter murmeln: „Aber vor ein paar Tagen ging es ihr doch beinahe perfekt – wenn man nur von ihrem Körper ausgeht.“ Die nächsten Worte sagte sie in normaler Lautstärke zu mir. „Ich würde ja mit dir zum Arzt gehen, Aya, aber der hat leider schon zu und Krankenhaus ist mir noch zu voreilig.“ Schlapp zuckte ich mit den Schultern. Das war mir egal.

Am Ende landeten wir dann doch im Krankenhaus, weil sich meine Lage dramatisch verschlechtert hatte. Der Kopf einer Krankenschwester zeigte sich durch einen Türrahmen. „Ayaka Yamamoto, bitte“, rief sie uns als Nächstes auf. Inzwischen war ich so ausgelaugt, dass ich alles nur verschwommen zwischen meinen fast geschlossenen Augenlidern wahrnahm. Mama musste mich stützen. Nach schon ein paar Sekunden, so kam es mir jedenfalls vor, waren wir auch schon wieder aus dem Zimmer draußen. Da ich, wenn auch nur ein ganz klein wenig, neugierig und vielleicht auch besorgt war, was denn nun Sache war, zwang ich mich kurz zu konzentrieren. Ein Blick auf meine Mutter genügte, um mir ein mulmiges Gefühl zu geben. Sie sah angespannt aus; ihre Lippen zusammengepresst, ihre Augen zu Schlitzen verzogen, ihre Wangenknochen herausstechend. So hatte sie das letzte Mal kurz vor Hisas letztem Besuch beim Arzt ausgesehen. Das war wirklich gar nicht gut. Das Ganze realisierte ich erst wieder später, als ich schon einige Untersuchungen hinter mir gehabt hatte. Irgendwann musste Mama Julie und meinen Vater angerufen haben, denn ich hatte, denn meine beste Freundin hielt neben mir meine Hand und Papa sprach leise mit meiner Mutter, als dann ein Arzt auf uns zukam. Wenn mich meine Erinnerung nicht trübt, was durchaus der Fall sein kann, machte er eine mitleidige Miene. Ich spürte gerade so, wie Julie meine Hand angstvoll drückte und meine Eltern die Luft anhielten. Wieso waren alle so unruhig? Der Mann im weißen Kittel fing an zu sprechen. Er sprach langsam und sanft, wie mit Kindergartenkindern. Meine Wahrnehmung klärte sich genau zur richtigen Stelle. Gerade hatte Dr. Scherbers sein letztes Wort gesprochen, da hörte ich Mama aufschluchzen. Julie zuckte so stark zusammen, dass ich fürchtete sie könnte zusammenbrechen. Als ich mich umdrehte wollte meine Mutter wegrennen, doch mein Vater hielt sie zurück. Durch diese plötzliche Verzweiflung von allen füllten sich meine Augen ebenfalls mit Tränen, obwohl ich nicht wusste, warum alle so aufgelöst waren. Aber es war nicht schwer, es sich selber zu denken: Ich hatte eine schlimme Diagnose bekommen. Bei den anschließenden Worten des Arztes bestätigte es sich noch einmal von selbst. „Ayaka?“ Er sprach meinen Namen seltsam abgehackt aus. Wie ein Fremdwort, das er neu lernte. Sein Blick streifte meine Augen erneut. „Weißt du was ich gesagt habe? Du hast Leukämie. Deine Lebenserwartung liegt bei ungefähr einem Monat.“ Und dann begann mein Leben.

Die Geschichte ist im Frühjahr 2015 entstanden.

Tonnen aus Blei

 Es war einmal ein Mädchen namens Sophia, das durchbrach langsam die Hülle seiner eigenen Welt, um einen Blick in die Wirklichkeit zu wagen. Sophia war gerade so alt, dass die Schwelle des Erwachsenwerdens schon fast in Sicht war. Viele ihrer Freunde wirkten schon sehr erwachsen, doch sie hatte das noch nie zu hören bekommen. Eines Tages war die Woche ihrer Konfirmation gekommen. Für Samstag luden ihre Eltern alle Gäste zu sich zu Kaffee und Kuchen nach Hause. Aber ihre Eltern hatten ihr Geschenk noch nicht fertig und die Vorbereitungen für den morgigen Tag waren auch noch am Laufen. Also sagte der Vater zu seiner Tochter: „Sophia, würdest du für die Gäste alles vorbereiten? Wir dachten, du würdest dich freuen, ein wenig Verantwortung zu übernehmen.“ Und tatsächlich tat sie das. Das war ihre Chance, ihr Können zu beweisen. Freitags nach der Schule ging sie einkaufen, um das Nötigste zu besorgen. Voller Vorfreude beeilte sie sich, den Heimweg anzutreten, sofern das mit vollgepackten Tüten voller Kuchenzutaten, Sahne, Servietten und noch vielem mehr möglich war. Angekommen backte sie, was das Zeug hielt. Als sie schon den ziemlich trockenen Teig in den Ofen geschoben hatte, fiel ihr plötzlich auf, dass sie vergessen hatte, Milch zu kaufen. Mit Entsetzen beobachtete Sophia, wie die Kuchen in sich zusammenfielen. Sie suchte ein Rezept ohne Milch, denn mittlerweile war es zu spät geworden, als dass sie noch hätte zum Supermarkt zurückkehren können. Zum Glück fand sie schnell eine Anleitung für einen Nusskuchen mit nur ganz wenigen Zutaten. Diesen machte sie gleich zweimal, verzierte den einen aber mit Schokoladenglasur, damit sich die beiden wenigstens ein bisschen unterschieden. Letztendlich war Sophia sehr mit sich zufrieden. Erschöpft legte sie sich ins Bett und war gleich eingeschlafen.

Als sie am nächsten Tag aufwachte, stand sie gleich auf und machte sich an die auf sie wartende Arbeit. Ein Zettel ihrer Eltern, die Sophia ihre kurze Abwesenheit erklärten, lag auf dem Schuhschrank. Sie verwandelte den Tisch in eine lange Tafel und legte die beste Tischdecke, die sie fand, darauf. Schon bald hatte sie ordentlich Geschirr und Besteck gedeckt, nur noch Servietten fehlten. Nachdem sie die erste Packung verbraucht hatte, wollte sie neue holen, doch die einzigen, die sie fand, hatten Weihnachtsmotive. Sie hatte die Falschen gekauft! Eine Wahl hatte sie nicht, besser diese, als gar keine. Leider bissen die Farben sich mit den anderen, und man konnte ebenfalls nicht von Harmonie zur Tischdecke reden. Mittlerweile kamen Sophia Zweifel und ihre Begeisterung war gebremst worden. Für viel Nachdenken blieb ihr aber keine Zeit – die Gäste könnten jederzeit da sein. Und dann war es so weit. Beinahe pausenlos klingelte es die nächsten drei Minuten. Schon bald war das Haus durch heiteres Gerede und Gläserklirren erfüllt. Sophia wurde es ganz warm um ihr Herz, als alle auf sie anstießen. Schließlich waren so viele Leute teilweise weit gereist, nur um bei ihrer Konfirmation zu sein. Trotzdem war die Stimmung nicht ganz ausgelassen, das merkte auch sie. Mehrmals beäugten Gäste skeptisch die seltsame Farbkombination der Servietten, doch niemand sprach es laut aus, bis Oma Waltraud fragte: „Sag mal Kindchen, hab ich Alzheimer oder warum ist es heute Weihnachten?“ Die Tischgesellschaft lachte, Sophia fand das aber nicht lustig. Es war das erste Mal, dass sie sich wirklich Mühe gegeben hatte und da wollte sie nicht ausgelacht werden.
Wenigstens schienen die Kuchen zu schmecken, sogar ihre Tante Sabine, die normalerweise sehr kleinlich war, was Essen betraf, nahm ein Stück von dem Schoko-Nuss-Kuchen. Auf einmal fing diese aber furchtbar an zu husten, so, als ob sie keine Luft mehr bekommen würde. Das Mädchen, das vorher noch im Mittelpunkt gestanden hatte,  war völlig erstarrt, unfähig, sich zu rühren. Dafür handelten die anderen schneller. „Sieht mir nach einer allergischen Reaktion aus“, urteilte Opa Hans besorgt. Bei diesen Worten zuckte Sophias Vater zusammen und drehte sich langsam zu ihr um. „Was hast du in den Kuchen hineingetan, Sophia?“, fragte er mit gefährlich ruhiger Stimme. Die Angesprochene senkte den Blick und murmelte kleinlaut: „Eier, Nüsse ,-“, weiter kam sie nicht. „NÜSSE?“, donnerte mein Vater los. Die arme Sabine wurde schon ganz rot, weil niemand auf die Idee kam, ihr zu helfen. „Das bringt doch nichts“, meinte seine Frau beschwichtigend. „Los, schnell, in der Tasche dort müsste ein kleines Fläschchen sein, das die Allergie bekämpft!“ Die Personen, die der Tasche am nächsten waren, spurteten los und brachten das gesuchte Medikament der nach Atem ringenden Frau. Sophia aber bekam das alles gar nicht mehr mit, denn sie war schon längst nach oben in ihr Zimmer gestürzt, wo sie ihren angestauten Tränen freien Lauf lassen konnte. Ihre Enttäuschung war einfach zu groß. Nachdem sich ihre Mutter versichert hatte, dass es ihrer Schwester gut ging, folgte sie ihr. Die Frau fand das Mädchen zusammengekauert in seinem Bett. „Sophia?“, fragte sie leise. Stille. „Was ist los?“ Sie ließ nicht locker. Entschlossen ging die Mutter auf das Bett ihrer Tochter zu. Ein Schluchzer ertönte daraus. „Heißt es das, erwachsen zu werden? Dass sich das Herz so anfühlt, als wären Tonnen aus Blei darauf?“ Verständnisvoll blickte die Frau direkt in die Augen der Jugendlichen, in denen Wasser glitzerte. „Manchmal schon, meine Süße. Du trägst Verantwortung. Das ist der erste Schritt.“ Sophia legte den Kopf schief. „Dann möchte ich das nicht. Es ist so viel einfacher, Kind zu bleiben“, flüsterte sie anklagend. „Das kannst du aber nicht“, erwiderte die Mutter plötzlich düster. Sie fing sich wieder. „Lass mich dir eine Geschichte erzählen. Zwei Männer sind arbeitslos. Sie haben beide Familien zu ernähren, tragen Verantwortung für sie. Weil sie keine Arbeit haben, bekommen sie Geld vom Staat – Harz IV. Der Eine von beiden findet, dass das Geld, was er bekommt, ausreicht. Deswegen bleibt er lieber zu Hause und will gar keine Arbeit. Sein Geld ist zwar knapp, aber ausreichend. Der zweite Mann geht ständig zu Bewerbungsgesprächen, aber es will einfach nicht klappen. Er ist sehr traurig, da er seinen Kindern nicht alles bieten kann, was sie wollen.“ „Dann bin ich erwachsen, wenn ich viel Geld habe“, schlussfolgerte Sophia eifrig. „Nein, du hast es noch nicht ganz verstanden. Ich erzähle dir eine zweite Geschichte. Also, ein Mann ist Banker. Er muss in seinem Beruf Geld von Investoren verwalten. In einer bestimmten Zeitspanne muss er einen bestimmten Gewinn machen. Das hängt von verschiedenen Dingen ab. Wenn er viel aus diesem Geld macht, bekommt er auch einen größeren Teil. Einmal hat er großes Glück gehabt und jetzt ist er reich. Findest du, dass er besonders viel Verantwortung zu tragen hat, nur, weil er reich ist? Denke an den Mann, der so stark versucht, eine Arbeit zu bekommen.“ Sophia sah nachdenklich aus. „Das eine hängt nicht mit dem anderen zusammen, stimmt’s? Ich muss einfach mit den Konsequenzen leben und das Beste daraus machen.“ Ihre Mutter sagte nichts, sie war zu erfüllt mit warmem Stolz.
Seit diesem Gespräch ist viel passiert. Heute ist Sophia – bin ich – mehrfache Großmutter, deren Blüte des Lebens schon fast verwelkt ist. Tief in mir drinnen befindet sich noch eine wohl behütete Knospe, die Knospe der Kindheit. Ich bin dankbar für das, was Mama mir vermittelt hat.

Aber – wer würde nein sagen, wenn er die Möglichkeit hat, das Leben nochmal aus der Sicht eines Kindes zu sehen?

Diese Geschichte habe ich dieses Jahr für einen Schreibwettbewerb zum Thema "Erwachsenwerden" verfasst.

Dienstag, 18. Juni 2013

Eine besondere Reise

Das ist einer der einzigen Gedichte, die ich geschrieben habe. Damals war ich noch sehr, sehr jung, aber ich mag es eigentlich ganz gerne.


Sterne funkeln vom Himmel nieder,
spiegeln sich in Teichen wieder.
Leise, ganz ganz leise,
begebe ich mich auf eine Reise. 
Diese führt zum Himmelszelt,
das mir doch so gut gefällt.
Keine Nacht könnt' besser sein,
der Mond wirft einen hellen Schein.
Während ich dahin so schwebe,
und mich auf den Weg begebe,
kommt mein Ziel doch immer näher,
schau ich hin, ganz wie ein Späher.
Dann; endlich bin ich da,
und meinem Ziel so nah.
Jetzt fliege ich zum Himmelssaum,
ein rötlich Band im Morgentraum.

Mein erster Frühling

Mein erster Frühling
Ein schwarzer Schwanz zuckte ungeduldig vor mir auf und ab. „Wo warst du die ganze Zeit?“, erkundigte sich meine Schwester Pia. Sie sah verletzt aus. Verlegen leckte ich meine Pfote und sah vorsichtig mit meinen grünen Augen in ihr schneeweißes Gesicht. „Ich… ich…na ja, ich war…ich glaub, ich…“, stotterte ich. Ich seufzte. „Ich habe einen Spaziergang gemacht“, miaute ich kleinlaut. „Du weißt, dass wir das nicht dürfen!“, empörte sich Pia. „Und außerdem“, sie machte eine Pause, „warum hast du mich nicht mitgenommen?“ Erwartungsvoll setzte sie sich hin. Ich schwieg einen Moment. Ich könnte ihr ja nicht sagen, dass ich mich vor ihrem Geplapper drücken wollte. „Also?“ Herausfordernd sah sie mich an. „Äh…also, du hast gerade geschlafen und…“, weiter kam ich nicht. „Bella, du weißt ganz genau du hättest mich wecken müssen!“ „Ja, ich weiß…aber ich muss dir unbedingt was erzählen!“, schnell fuhr ich fort, als Pia mich schon wieder unterbrechen wollte. „Du weißt doch, dass ich mich schon immer gefragt habe, was unterm Schnee ist“ „Ja…“
Ich stürmte nach draußen und nachdem, was ich hörte, folgte mir Pia mit lautem Pfotengetrappel. Als wir aus dem Haus stürmten, freute ich mich über die klare, kühle Luft, die mich umgab. Mit meinem Näschen hochgereckt stolzierte ich über das Gras und über den Schnee, in dem ich kleine Fußspuren hinterließ. Im hintersten Winkel des Gartens wartete die Überraschung auf Pia. Eine Blume, die eine so ähnliche Farbe wie der Himmel hatte, wuchs zwischen zwei noch kahlen Büschen. Meine Schwester war nun auch ganz aufgeregt und untersuchte neugierig die Pflanze mit der unbekannten Farbe. „Das müssen wir Mama erzählen!“, maunzte sie mit zittriger Stimme. Mit diesen Worten stürmte sie wieder rein, diesmal ich hinten. Flink guckten wir uns im Haus um, auf der Suche nach unserer Mutter. Die fanden wir dösend in ihrem Körbchen. „Mama, bist du wach?“, fragten wir wie aus einem Munde. „Jetzt schon!“ Belustigt schnurrte sie. „Was gibt es denn so Wichtiges, dass ihr mich wecken müsst?“ Wir antworteten ihr erst gar nicht, sondern liefen schon mal raus. Die Katzenmutter streckte sich noch einmal, bis sie etwas langsamer hinterher tapste. Als Mama endlich angekommen war, hopste ich schon vor mich hin. Kaum war sie da, miaute ich: „Was ist das?“, und sah auf die rätselhafte Pflanze. „Deswegen habt ihr mich geweckt? Das ist ein Veilchen!“ „Was ist das für eine komische Farbe?“, fragte ich gleich weiter. „Das nennt man Lila. Es sieht ein wenig nach blau aus, nicht wahr?“ Pia und ich nickten eifrig. „Nun, ihr werdet bald noch mehr neue Farben und Blumen kennenlernen.“ Ich fragte mich, wie es wohl aussehen würde, wenn so viele Farben zusammen wären. Bisher hatte ich meistens nur weiß, braun und grau gesehen. Aber ich musste mich nicht lange gedulden. Schon bald war der Garten in allen Farben, die man sich vorstellen konnte, gefüllt. Plötzlich erinnerte ich mich an einen Begriff, den Mama uns mal erzählt und erklärt hatte. „Ich glaube, es ist Frühling!“, sagte ich leise halb zu mir selbst, halb zu Pia
.