Sie sah
mich. Ich rannte auf sie zu. Nur noch zwei Meter. Meine Arme umschlossen ihren
zierlichen Körper. Mir standen die Tränen in den Augen. Ich spürte, wie ich zu
weinen begann, mit einer einzelnen Träne beginnend. Ich wollte den Mund
aufmachen, um etwas zu sagen, doch meine Freundin kam mir zu vor. Erleichterung
erfüllte mich, endlich konnte ich sie wieder in meine Arme schließen. „Hey, ich
hab dich doch. Du brauchst nichts zu sagen“, beruhigte mich Julie. Sie wusste
immer genau, was ich brauchte und wollte. Die Dankbarkeit, dass ich eine so
tolle Freundin hatte, verschwand aber schnell wieder, um der nächsten Welle von
Trauer Platz zu machen. Das Bild des Grabes, ihres Grabes, erschien mir erneut
vor Augen. Ihr Lachen, ihr Strahlen, das alles schmerzte mich so sehr. „Es tut
mir leid“, brachte ich schließlich hervor, nachdem ich mich ein wenig beruhigt
hatte. „Dir sollte gar nichts leidtun.“ Julie sah streng zu mir hinunter. „Wenn
überhaupt jemandem irgendwas leidtun muss, dann mir.“ Wegen der Überraschung
war ich für ein paar Augenblicke abgelenkt. „Was…wieso?“ Meine Stimme war vom
Weinen belegt. Leise seufzte Julie und senkte den Blick. „Ich war so egoistisch
und bin im Urlaub geblieben, statt zu dir zurückzukommen und dich zu stützen.
Aya, es tut mir so leid, was bin ich nur für eine Freundin?“ Sie schniefte. Ungläubig
starrte ich sie an. „Was?“, fragte sie unsicher. Langsam schüttelte ich den
Kopf. „Du bist die beste Freundin die ich je hatte, du hast mich immer unterstützt, ich fasse es nicht,
dass ausgerechnet du an dir zweifelst. Du hast wirklich keinen Grund dazu. Ist
doch selbstverständlich, dass du nicht bei dem kleinsten Weh-Wehchen
zurückkommst. Mein Gott, wir sind 15!“ Etwas drückte mein Herz zusammen und ich
schaffte es nicht mehr, ihren Blick zu halten. „Auch wenn ein Tod längst keine
Kleinigkeit ist.“ Ich brach ab. Julie wurde wieder sanft. „Natürlich nicht.“ Ich
merkte, wie sie nach Worten suchte. „Hatte sie Schmerzen?“ „Ich weiß es nicht.
Ich meine … ein Tumor ist normalerweise kein Spaziergang“, flüsterte ich. Meine
Augen wurden glasig. „Ich habe auch noch ihren Namen ausgesucht. Hisa bedeutet
langlebig und dann wird sie gerade mal zwei Jahre alt! Ist das nicht
ironisch?“, zischte ich auf einmal bitter. Ich war so laut, dass ich schon fast
schrie. Erschrocken über meinen plötzlichen Wutausbruch fing ich schon wieder
an zu weinen. Ich atmete schwer. Die Wut verflog so schnell wie sie gekommen
war. Stattdessen machte sich eine noch viel schlimmere Leere in mir breit. Meine
Freundin betrachtete mich forsch. „Ich denke, Ablenkung ist das einzige, was
jetzt hilft“, sagte sie schließlich.
Ich starrte
in mein Spiegelbild. Verquollene Augen blickten mir entgegen. Mein komplettes
Gesicht war sehr blass und dazu noch geschwollen. Da ich in letzter Zeit
einfach nicht schlafen konnte, hatte ich natürlich tiefschwarze Augenringe. Schwarze
Haare umrahmten normalerweise elegant mein Gesicht, doch jetzt waren sie
zottelig und hingen ohne jegliches Volumen herunter. Kurz: Ich sah schrecklich
aus. In den letzten Tagen hatte ich eben nicht sonderlich auf meine Erscheinung
geachtet. Meine psychische Verfassung hatte sich sehr auf meine physische
ausgewirkt. Was spielte es auch für eine Rolle, wie ich aussah, wenn meine kleine
Schwester tot war? Tot. Zum ersten Mal konnte ich dieses Wort denken, ohne dass
ich in Tränen ausbrach. Ich schloss kurz meine Augen. Tief holte ich Luft und
fing an mich wieder herzurichten. Auf einmal fing meine Hand, in der sich die
Bürste befand, zu zittern. Es kostete mich meine ganze Kraft, sie noch
festzuhalten. Ich versuchte sie kontrolliert wieder auf das Waschbecken zu
legen, was mir dann auch mehr oder weniger gelang. Als ich erneut in den
Spiegel sah, rannen mir Schweißperlen das Gesicht hinunter.
Erschöpft
wankte ich die Treppe hinunter, dabei war ich erst gerade aufgestanden. Mir war
schwindelig, ich konnte mich kaum auf den Beinen halten. Meine Stirn war heiß
und meine Augen brannten. „Ayaka! Komm je…“ Mama hielt inne, als sie mich
erblickte. Auch ihr ging es offensichtlich nicht besonders gut, was man ihr ja
nicht verübeln würde, schließlich hatte sie auch unter Hisas Tod gelitten, aber
mein Anblick war wahrscheinlich noch viel schlimmer. „Geht’s dir nicht gut?“,
fragte sie besorgt, aber dennoch sofort auf den Punkt. So war sie eben. Schwach
wie ich war, wollte ich den Kopf schütteln, doch gerade so konnte ich mich noch
dazu zwingen ein Lächeln hervorzubringen. „Doch“, keuchte ich. Sie hatte
wirklich andere Probleme, als meine Gesundheit. Mama runzelte die Stirn.
„Schatz, lüg mich nicht an. Du bleibst heute zu Hause und wenn es dir
schlechter geht, müssen wir zum Arzt“, bestimmte sie scharf. Ich hätte
eigentlich erstaunt sein müssen – normalerweise gab es keine Ausnahme, was
Schule betraf – aber da ich zu müde war, trottete ich langsam wieder Richtung
Zimmer. Als ich mich von meiner Mutter abwandte, spürte ich noch ihren
sorgenvollen Blick in meinem Nacken.
Am Abend
hatte sich meine Lage nicht verbessert, im Gegenteil. Mit einer warmen Decke
lag ich auf dem Sofa neben meiner Mutter und schaute Fernsehen, doch ich konnte
mich nicht richtig konzentrieren. Ich hörte meine Mutter murmeln: „Aber vor ein
paar Tagen ging es ihr doch beinahe perfekt – wenn man nur von ihrem Körper
ausgeht.“ Die nächsten Worte sagte sie in normaler Lautstärke zu mir. „Ich
würde ja mit dir zum Arzt gehen, Aya, aber der hat leider schon zu und
Krankenhaus ist mir noch zu voreilig.“ Schlapp zuckte ich mit den Schultern.
Das war mir egal.
Am Ende
landeten wir dann doch im Krankenhaus, weil sich meine Lage dramatisch
verschlechtert hatte. Der Kopf einer Krankenschwester zeigte sich durch einen
Türrahmen. „Ayaka Yamamoto, bitte“, rief sie uns als Nächstes auf. Inzwischen
war ich so ausgelaugt, dass ich alles nur verschwommen zwischen meinen fast
geschlossenen Augenlidern wahrnahm. Mama musste mich stützen. Nach schon ein
paar Sekunden, so kam es mir jedenfalls vor, waren wir auch schon wieder aus
dem Zimmer draußen. Da ich, wenn auch nur ein ganz klein wenig, neugierig und
vielleicht auch besorgt war, was denn nun Sache war, zwang ich mich kurz zu
konzentrieren. Ein Blick auf meine Mutter genügte, um mir ein mulmiges Gefühl
zu geben. Sie sah angespannt aus; ihre Lippen zusammengepresst, ihre Augen zu
Schlitzen verzogen, ihre Wangenknochen herausstechend. So hatte sie das letzte
Mal kurz vor Hisas letztem Besuch beim Arzt ausgesehen. Das war wirklich gar
nicht gut. Das Ganze realisierte ich erst wieder später, als ich schon einige
Untersuchungen hinter mir gehabt hatte. Irgendwann musste Mama Julie und meinen
Vater angerufen haben, denn ich hatte, denn meine beste Freundin hielt neben
mir meine Hand und Papa sprach leise mit meiner Mutter, als dann ein Arzt auf
uns zukam. Wenn mich meine Erinnerung nicht trübt, was durchaus der Fall sein
kann, machte er eine mitleidige Miene. Ich spürte gerade so, wie Julie meine
Hand angstvoll drückte und meine Eltern die Luft anhielten. Wieso waren alle so
unruhig? Der Mann im weißen Kittel fing an zu sprechen. Er sprach langsam und
sanft, wie mit Kindergartenkindern. Meine Wahrnehmung klärte sich genau zur
richtigen Stelle. Gerade hatte Dr. Scherbers sein letztes Wort gesprochen, da
hörte ich Mama aufschluchzen. Julie zuckte so stark zusammen, dass ich
fürchtete sie könnte zusammenbrechen. Als ich mich umdrehte wollte meine Mutter
wegrennen, doch mein Vater hielt sie zurück. Durch diese plötzliche
Verzweiflung von allen füllten sich meine Augen ebenfalls mit Tränen, obwohl
ich nicht wusste, warum alle so aufgelöst waren. Aber es war nicht schwer, es
sich selber zu denken: Ich hatte eine schlimme Diagnose bekommen. Bei den
anschließenden Worten des Arztes bestätigte es sich noch einmal von selbst.
„Ayaka?“ Er sprach meinen Namen seltsam abgehackt aus. Wie ein Fremdwort, das
er neu lernte. Sein Blick streifte meine Augen erneut. „Weißt du was ich gesagt
habe? Du hast Leukämie. Deine Lebenserwartung liegt bei ungefähr einem Monat.“
Und dann begann mein Leben.
Die Geschichte ist im Frühjahr 2015 entstanden.
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