Freitag, 12. August 2016

Tonnen aus Blei

 Es war einmal ein Mädchen namens Sophia, das durchbrach langsam die Hülle seiner eigenen Welt, um einen Blick in die Wirklichkeit zu wagen. Sophia war gerade so alt, dass die Schwelle des Erwachsenwerdens schon fast in Sicht war. Viele ihrer Freunde wirkten schon sehr erwachsen, doch sie hatte das noch nie zu hören bekommen. Eines Tages war die Woche ihrer Konfirmation gekommen. Für Samstag luden ihre Eltern alle Gäste zu sich zu Kaffee und Kuchen nach Hause. Aber ihre Eltern hatten ihr Geschenk noch nicht fertig und die Vorbereitungen für den morgigen Tag waren auch noch am Laufen. Also sagte der Vater zu seiner Tochter: „Sophia, würdest du für die Gäste alles vorbereiten? Wir dachten, du würdest dich freuen, ein wenig Verantwortung zu übernehmen.“ Und tatsächlich tat sie das. Das war ihre Chance, ihr Können zu beweisen. Freitags nach der Schule ging sie einkaufen, um das Nötigste zu besorgen. Voller Vorfreude beeilte sie sich, den Heimweg anzutreten, sofern das mit vollgepackten Tüten voller Kuchenzutaten, Sahne, Servietten und noch vielem mehr möglich war. Angekommen backte sie, was das Zeug hielt. Als sie schon den ziemlich trockenen Teig in den Ofen geschoben hatte, fiel ihr plötzlich auf, dass sie vergessen hatte, Milch zu kaufen. Mit Entsetzen beobachtete Sophia, wie die Kuchen in sich zusammenfielen. Sie suchte ein Rezept ohne Milch, denn mittlerweile war es zu spät geworden, als dass sie noch hätte zum Supermarkt zurückkehren können. Zum Glück fand sie schnell eine Anleitung für einen Nusskuchen mit nur ganz wenigen Zutaten. Diesen machte sie gleich zweimal, verzierte den einen aber mit Schokoladenglasur, damit sich die beiden wenigstens ein bisschen unterschieden. Letztendlich war Sophia sehr mit sich zufrieden. Erschöpft legte sie sich ins Bett und war gleich eingeschlafen.

Als sie am nächsten Tag aufwachte, stand sie gleich auf und machte sich an die auf sie wartende Arbeit. Ein Zettel ihrer Eltern, die Sophia ihre kurze Abwesenheit erklärten, lag auf dem Schuhschrank. Sie verwandelte den Tisch in eine lange Tafel und legte die beste Tischdecke, die sie fand, darauf. Schon bald hatte sie ordentlich Geschirr und Besteck gedeckt, nur noch Servietten fehlten. Nachdem sie die erste Packung verbraucht hatte, wollte sie neue holen, doch die einzigen, die sie fand, hatten Weihnachtsmotive. Sie hatte die Falschen gekauft! Eine Wahl hatte sie nicht, besser diese, als gar keine. Leider bissen die Farben sich mit den anderen, und man konnte ebenfalls nicht von Harmonie zur Tischdecke reden. Mittlerweile kamen Sophia Zweifel und ihre Begeisterung war gebremst worden. Für viel Nachdenken blieb ihr aber keine Zeit – die Gäste könnten jederzeit da sein. Und dann war es so weit. Beinahe pausenlos klingelte es die nächsten drei Minuten. Schon bald war das Haus durch heiteres Gerede und Gläserklirren erfüllt. Sophia wurde es ganz warm um ihr Herz, als alle auf sie anstießen. Schließlich waren so viele Leute teilweise weit gereist, nur um bei ihrer Konfirmation zu sein. Trotzdem war die Stimmung nicht ganz ausgelassen, das merkte auch sie. Mehrmals beäugten Gäste skeptisch die seltsame Farbkombination der Servietten, doch niemand sprach es laut aus, bis Oma Waltraud fragte: „Sag mal Kindchen, hab ich Alzheimer oder warum ist es heute Weihnachten?“ Die Tischgesellschaft lachte, Sophia fand das aber nicht lustig. Es war das erste Mal, dass sie sich wirklich Mühe gegeben hatte und da wollte sie nicht ausgelacht werden.
Wenigstens schienen die Kuchen zu schmecken, sogar ihre Tante Sabine, die normalerweise sehr kleinlich war, was Essen betraf, nahm ein Stück von dem Schoko-Nuss-Kuchen. Auf einmal fing diese aber furchtbar an zu husten, so, als ob sie keine Luft mehr bekommen würde. Das Mädchen, das vorher noch im Mittelpunkt gestanden hatte,  war völlig erstarrt, unfähig, sich zu rühren. Dafür handelten die anderen schneller. „Sieht mir nach einer allergischen Reaktion aus“, urteilte Opa Hans besorgt. Bei diesen Worten zuckte Sophias Vater zusammen und drehte sich langsam zu ihr um. „Was hast du in den Kuchen hineingetan, Sophia?“, fragte er mit gefährlich ruhiger Stimme. Die Angesprochene senkte den Blick und murmelte kleinlaut: „Eier, Nüsse ,-“, weiter kam sie nicht. „NÜSSE?“, donnerte mein Vater los. Die arme Sabine wurde schon ganz rot, weil niemand auf die Idee kam, ihr zu helfen. „Das bringt doch nichts“, meinte seine Frau beschwichtigend. „Los, schnell, in der Tasche dort müsste ein kleines Fläschchen sein, das die Allergie bekämpft!“ Die Personen, die der Tasche am nächsten waren, spurteten los und brachten das gesuchte Medikament der nach Atem ringenden Frau. Sophia aber bekam das alles gar nicht mehr mit, denn sie war schon längst nach oben in ihr Zimmer gestürzt, wo sie ihren angestauten Tränen freien Lauf lassen konnte. Ihre Enttäuschung war einfach zu groß. Nachdem sich ihre Mutter versichert hatte, dass es ihrer Schwester gut ging, folgte sie ihr. Die Frau fand das Mädchen zusammengekauert in seinem Bett. „Sophia?“, fragte sie leise. Stille. „Was ist los?“ Sie ließ nicht locker. Entschlossen ging die Mutter auf das Bett ihrer Tochter zu. Ein Schluchzer ertönte daraus. „Heißt es das, erwachsen zu werden? Dass sich das Herz so anfühlt, als wären Tonnen aus Blei darauf?“ Verständnisvoll blickte die Frau direkt in die Augen der Jugendlichen, in denen Wasser glitzerte. „Manchmal schon, meine Süße. Du trägst Verantwortung. Das ist der erste Schritt.“ Sophia legte den Kopf schief. „Dann möchte ich das nicht. Es ist so viel einfacher, Kind zu bleiben“, flüsterte sie anklagend. „Das kannst du aber nicht“, erwiderte die Mutter plötzlich düster. Sie fing sich wieder. „Lass mich dir eine Geschichte erzählen. Zwei Männer sind arbeitslos. Sie haben beide Familien zu ernähren, tragen Verantwortung für sie. Weil sie keine Arbeit haben, bekommen sie Geld vom Staat – Harz IV. Der Eine von beiden findet, dass das Geld, was er bekommt, ausreicht. Deswegen bleibt er lieber zu Hause und will gar keine Arbeit. Sein Geld ist zwar knapp, aber ausreichend. Der zweite Mann geht ständig zu Bewerbungsgesprächen, aber es will einfach nicht klappen. Er ist sehr traurig, da er seinen Kindern nicht alles bieten kann, was sie wollen.“ „Dann bin ich erwachsen, wenn ich viel Geld habe“, schlussfolgerte Sophia eifrig. „Nein, du hast es noch nicht ganz verstanden. Ich erzähle dir eine zweite Geschichte. Also, ein Mann ist Banker. Er muss in seinem Beruf Geld von Investoren verwalten. In einer bestimmten Zeitspanne muss er einen bestimmten Gewinn machen. Das hängt von verschiedenen Dingen ab. Wenn er viel aus diesem Geld macht, bekommt er auch einen größeren Teil. Einmal hat er großes Glück gehabt und jetzt ist er reich. Findest du, dass er besonders viel Verantwortung zu tragen hat, nur, weil er reich ist? Denke an den Mann, der so stark versucht, eine Arbeit zu bekommen.“ Sophia sah nachdenklich aus. „Das eine hängt nicht mit dem anderen zusammen, stimmt’s? Ich muss einfach mit den Konsequenzen leben und das Beste daraus machen.“ Ihre Mutter sagte nichts, sie war zu erfüllt mit warmem Stolz.
Seit diesem Gespräch ist viel passiert. Heute ist Sophia – bin ich – mehrfache Großmutter, deren Blüte des Lebens schon fast verwelkt ist. Tief in mir drinnen befindet sich noch eine wohl behütete Knospe, die Knospe der Kindheit. Ich bin dankbar für das, was Mama mir vermittelt hat.

Aber – wer würde nein sagen, wenn er die Möglichkeit hat, das Leben nochmal aus der Sicht eines Kindes zu sehen?

Diese Geschichte habe ich dieses Jahr für einen Schreibwettbewerb zum Thema "Erwachsenwerden" verfasst.

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